Die Berner Theaterregisseurin Livia Anne Richard hat im Februar ihren ersten Roman veröffentlicht. Ein sehr vielschichtiges Buch. Leider musste die Buchvernissage in der Buchhandlung Stauffacher in Bern aufgrund Corona abgesagt werden. Die Autorin verschickte daraufhin handsignierte Exemplare per Post.
Um was gehts?
Livia Anne Richards stellt uns ein eigenwilliges Mädchen vor, das 1969 geboren, die meiste Zeit ihrer Kindheit mit Indianerspielen verbringt. Anna ist das einzige Mädchen unter 40 Jungs im Quartier. Ihr fällt daher automatisch die Rolle der Squaw zu. Doch das passt ihr nicht. Anna will nicht im Tippi auf die heimkehrenden Krieger warten, sie will die Gruppe anführen. Also vollzieht sie eine Mutprobe und erkämpft sich so die Rolle des Winnteou.
In den verschiedenen Szenen erhalten wir abwechsend Einblicke in die Kindheit und in Annas Zeit in Amerika, wo sie als junge Erwachsene ein Austauschjahr macht. In Marc findet sie einen Verbündeten, der mit ihr Höhlen erforscht und mitternächtliche Expeditionen plant. Namid ist ihr erster Freund, Nora und sie sind wie Schwestern, trotz aller Unterschiede. Und dann ist da auch noch Ander, der Spielgefährt mit den samtbraunen Augen, der mitsamt Kleidung in Annas Badewanne hüpft.
Anna, die sich als Indianer wohl fühlt, wird in Amerika mit ihrem Körper und mit ihren weiblichen Seiten konfrontiert. Sie macht erste Erfahrungen mit ihrer Sexualität und schliesslich taucht Nico auf, der einen besonderen Platz in Annas Herz erobern wird.
Befreiung von Konventionen
Anna hält sich nicht an die Vorgaben und Klischees einer Gesellschaft. Sie gehört sich selber und hat dabei einen kindlichen, nicht wertenden Blick auf die Dinge rund um sie. Auf den ersten Blick scheint sie gar etwas naiv, sodass man schnell in Versuchung kommt, sie beschützen zu wollen. Doch bei längerer Betrachtung wird ihr das nicht gerecht, denn sie ist stark und hinterfragt Dinge. Sie zerpflückt die Ansichten ihrer Nonna: Warum muss eine Frau guten Sugo kochen können? Warum darf eine Frau nicht pfeifen? Warum sollte das Unglück bringen?
So kommt es, dass Anna mit 50 Jahren an der Beerdigung von Nico, mit der das Buch beginnt, laut lacht, als sie die selbstverliebte Amsel auf der Tanne singen hört. Ihr Lachanfall verunsichert die Gäste. Doch Anna versteht nicht, warum die Beerdigung eine so triste Angelegenheit sein muss, wenn doch eines auf der Welt absolut klar ist: Dass jeder Mensch einmal sterben muss. Auch wenn es der Lieblingsmensch ist.
Anna symbolisiert in meinen Augen das, was passiert, wenn man sich nicht an die Dos und Don’ts einer Gesellschaft hält. Sie behält sich dabei eine grosse Freiheit, was ich toll finde. Was aber auch zur Folge hat, dass sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt wird.
Männliche versus weibliche Seiten
Anna, die sich als den stärksten Indianer gibt, hat innerlich eine sehr sanfte Seite und ein feines Gespür. Ihre Intuition, ihr Bauchgefühl sind stark. Das beweist sie in den unterschiedlichsten Situationen. Sie nimmt Dinge wahr, die ihr Verstand nicht sofort ergründen kann:
Als sie in Amerika das zweite für sie bestimmte und wunderschön hergerichtete Gastzimmer betritt, riecht sie, dass da etwas faul ist und sie übergibt sich sofort. Anna schämt sich dafür, aber nur bis sie erfährt, dass der Sohn der Gastfamilie, der das Zimmer vor ihr bewohnt hatte, drogenabhängig war und sich daraufhin selbst umgebracht hatte. Sie, Anna, sollte ihn nun nichtsahnend ersetzten. Sie wird wütend und besteht vor dem Komitee der Austauschschule darauf, ihre nächste Gastfamilie selber aussuchen zu dürfen.
Anna macht während ihrem Austauschjahr auch ihre ersten Erfahrungen mit Männern – als Frau. Das birgt für sie als Indianer eine grosse Herausforderung:
Um den Indianer loszuwerden, spielt Anna eine Frau. Was nicht leicht ist, denn als Indianer hast du den Reflex, jedem eins über die Rübe zu ziehen, der dir an die Rothaut will.
Diese Erfahrungen sind denn auch nicht alle angenehm: Der Gastvater betatscht sie, der Dicke auf dem Parkplatz glotzt. Doch sie lässt sich nicht unterkriegen und fühlt sich nie als Opfer. Und sie macht auch gute Erfahrungen.
Im Laufe der Geschichte versucht Anna dann, ihre weiblichen Seiten und das Männliche in ihr auf einen Nenner zu bringen. Diese beiden Seiten zu vereinen, stellt sich als sehr anspruchsvoll heraus. Ich persönlich finde diesen Aspekt des Buches sehr inspirierend.
Im Allgemeinen empfand ich das Buch als sehr intensiv. Es klingen gleichzeitig viele aktuelle Themen an: Gender, Rassendiversität, Missbrauch, Erziehung und Familie, Gesellschaft und Konventionen. Alle diese Themen werden aufgenommen oder zumindest gestreift. Sie werden aber nie wertend dargestellt.
Ein eindrückliches Werk, hinter dessen Titel sich sehr viel verbirgt.

Anna der Indianer
von Livia Anne Richard
Cosmos Verlag | 2020 | 144 Seiten
ISBN 978-3-305-00488-1 | Hardcover
Disclaimer: Rezensionsexemplar vom Verlag
Quelle: Interview mit Livia Anne Richard – Radio SRF: Literaturfenster Schweiz
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Danke, dein Feedback freut mich!