Erstmal: Was für ein ästhetisches Buch! Das Hardcover mit einem Archivfoto von Arbeiter:innen der Stickereifabrik Arnold B. Heine (1902) passt wunderbar zum Inhalt. Das für den Umschlag verwendete Papier ist genauso hochwertig wie die restlichen Buchseiten, die sich beim Umblättern zwischen den Fingerspitzen einfach toll anfühlen. Dies und ein schlichtes Layout, hübsch und modern, machen das Lesen richtig zum Genuss.
Arbeitermilieu im 19. Jahrhundert im Thurgau
Stefan Keller, Historiker, Journalist, Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher, widmet sich in Spuren der Arbeit dem Kanton Thurgau, dem Ort seiner Kindheit. Ich muss ehrlich sagen, ich wusste bisher wenig über die Situation im Thurgau im 19. Jahrhundert – man liest ja viel über die industrielle Situation in Zürich (Maschinenbau), Bern (Schokolade), Jura/Genf (Uhren) oder die Armut im Tessin. Doch was passierte zu der Zeit im Thurgau? Höchste Zeit also (für mich) für Spuren der Arbeit.
Kellers Buch ist in thematische Schwerpunkte gegliedert. Er setzt einen Hauslehrer ins Scheinwerferlicht, erzählt von der Hungersnot 1816 und wie ein Vulkanausbruch damit zusammenhing, von jahrelanger Kinderarbeit, von Thurgauer Industriellen in der weiten Welt. Er besucht mit uns Stickereien und erforscht die Arbeitsumstände der Angestellten, den Alltag der Dienstboten, die Arbeitsbedingungen für Wanderarbeiter:innen und Italiener:innen.
Kleine Geschichten und grosse Themen – ein Collage
Erzählerische Elemente weist das Buch zwar vereinzelt auf, über das Gesamtwerk hinweg verbinden aber hauptsächlich Thema, Zeit und Ort. Einzelgeschichten werden mit Gesamtübersichten verknüpft, dies ergibt im Total eine farbige und vielfältige Collage zur Industrie und Arbeiterschaft im Thurgau des 19. Jahrhunderts.
Auch Anekdoten finden einen Platz. So zum Beispiel die Herkunft der Figur «Frankenstein»: Die Gruselfigur wird von Mary Shelley zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Symbol einer skeptischen Haltung gegenüber den neu entstehenden Industrie und Wissenschaft geschaffen. Die Figur steht dafür, dass es kein Zurück mehr gibt, wenn neue Energien einmal entfesselt sind.
An ein Bild, das Keller im Rahmen der Kinderarbeit schildert, werde ich mich wohl noch lange erinnern: Eine Zeitung berichtet, wie in einer Zündholzfabrik einem Jungen während der Arbeit der Oberkiefer herausfällt. Ja, du hast richtig gelesen! Einfach so rausgefallen. Grund dafür waren giftige Substanzen, mit denen in den Zündholzfabriken von damals gearbeitet wurde. Phosphornekrose nennt sich die Krankheit und Zahnschmerzen, Kopfweh sind erste Anzeichen, Knochenschwund und Tod spätere Folgen. «friendlyworkspace» war damals noch kein Thema, erste Bestrebungen um menschenwürdige Arbeitsbedingungen nehmen jedoch hier ihren Anfang.
Nahe am Quellmaterial
In seinen Ausführungen hält sich Keller stark ans Quellmaterial (so ist es nicht weiter verwunderlich, dass das Buch mit einem ausführlichen Quellenverzeichnis und Personenregister endet). Er zitiert Briefe, Zeitungsausschnitte oder Zeitschriften und bleibt in seiner Aussage faktenbasiert. Mutmassungen hält er zurück, lässt sie uns selber anstellen. Auch eine persönliche Stellungnahme des Autors fällt weg.
Der Fokus des Buchs liegt klar auf dem geschriebenen Text, im Anhang findet sich ergänzendes Bildmaterial: Fotos von Thurgauer Manufakturen, Post- und Visitenkarten; das meiste davon stammt aus Stefan Kellers persönlichem Archiv.
👉 Dieses Buch hat’s in sich. Man muss beim Lesen den Kopf eindeutig bei der Sache haben und eine grosse Informationsdichte verarbeiten. Spuren der Arbeit ist darum weniger als Gute-Nacht-Lektüre geeignet. Keller hat Kapitel und Absätze aber in eine gute Länge gebracht vereinfacht uns das Lesen damit.
Inhaltlich gesehen finde ich das Buch ganz wunderbar.

Spuren der Arbeit – Von der Manufaktur zur Serverfarm
von Stefan Keller
Rotpunktverlag | 2020 (2. Auflage) | 232 Seiten
ISBN 978-3-85869-869-8 | Hardcover
Disclaimer: Rezensionsexemplar vom Verlag
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