Pedro Lenz: Primitivo

Roman | Charly, Maurerlehrling und ich-Erzähler der Geschichte ist zutiefst betroffen als sein Freund Primitivo, der kurz vor der Pension stand, auf der Baustelle stirbt. Wir lauschen seinen Erzählungen von einer ungewöhnlichen Freundschaft und begleiten ihn bei seiner unaufgeregten und nachdenklichen Art zu trauern.
TAGS: Romane

Es ist der Sommer in 1982 als Primitivo Pérez, Maurer und spanischer Fremdarbeiter, auf der Baustelle in Madiswil von einem Schalungselement erschlagen wird. «Es het en Unfau ggä, e böse», so der Polier Hofer nach Feierabend zu seinen Kollegen und Mitarbeitern. Dann, einige Sekunden später: «Är hets nid überläbt.»

Charly, Maurerlehrling und ich-Erzähler der Geschichte ist zutiefst betroffen. Primitivo war nicht nur sein Arbeitskollege, sondern allem voran auch ein enger Freund und Bezugsperson. Auf den rund hundert Seiten zwischen Primitivos Tod und seiner Beerdigung lauschen wir Charlys Erzählungen der ungewöhnlichen Freundschaft. Trauerarbeit auf eine unaufgeregte und nachdenkliche Art und Weise.

Kontrastreich komponiert

Der vorliegende Roman lebt vom Gegensätzlichen. Angefangen damit, dass Primitivo kurz vor der Pensionierung steht, während sich die zweite Hauptfigur, Charly, mit seiner Lehre noch ganz am Anfang seiner beruflichen Karriere befindet. Primitivo und Charly. Der heimatlose Emigrant und der in der Provinz Aufgewachsene. Alt und jung – und doch haben sie beide so vieles gemeinsam.

Die Liebe zu Backsteinen und Büchern zum Beispiel. Diese beiden Maurer lieben die Lyrik. Sie lesen beim gemeinsamen Frühstück am Samstagmorgen in Primitivos Baracke, rezitieren Verse oder philosophieren während der Arbeit. 

Aber auch die Sprache im Roman könnte vielfältiger kaum sein: Pedro Lenz erzählt in Mundart mit Oberaargauer Akzent. Die rohe «Büezer-Sprache» passt wunderbar zum gewählten Milieu, zum Schauplatz und zu Charly als Erzähler. Dem gegenüber steht die sehr gepflegte Sprache der rezitierten Lyrik. Ein spannender Kontrast, der in Lenz‘ einzigartigem, in den Ohren klingenden Stil und Rhythmus eine Entsprechung findet.

Charly, der gute Freund

Charly ist ein gewöhnlicher Teenager der 80er Jahre. Er verliebt sich zum ersten Mal, trifft sich mit seinen Freunden am Waldfest in Herzogenbuchsee oder fährt am Töffli angehängt zum Konzert von Polo Hofer in der «Traube» in Wynau.

Doch er ist noch einiges mehr. Vielfältig talentiert, interessiert und authentisch zum Beispiel. Ein fleissiger Arbeiter – und ein guter Sohn, das findet zumindest er:

Mir müessi jetzt ömu wäge däm nid stürme, han i ar Mueter gseit, und ou wen i chli nach Rouch schmöcki, heig si doch zimlechs Glück gha, dass si so ne flotte Sohn wi mi heig verwütscht, wöu i wüss angeri Müetere, wo nid das Glück heige gha, wo si mit mir heig, und wo Söhn i mi Auter heige, wo äbefaus nach Rouch schmöcki, aber de über das use no unerföilechi Type sige, Drögeler, Chliikriminelli, Länghöörigi, Tagediebe oder no Schlimmers. Und we me aues über aues luegi, schmöcki ig vilecht grad im Moment chli nach Rouch, aber abgseh vo däm sig i ungefähr dä Sohn, wo sech die meischte Müetere würde wünsche.

Aber allem voran ist Charly ein guter Freund, der sich keine Mühe zu schade ist, um für seinen Freund eine ihm würdige Trauerfeier zu organisieren.

Fokus Feinheit in rauem Ambiente

Das Buch gefiel mir sehr. Ich kannte von Pedro Lenz bisher nur «Dr Goali bin ig» – und sowohl dort wie hier hebt Lenz die feinen Töne in einem auf den ersten Blick eher ruppig anmutenden Milieu hervor. Er setzt den Fokus auf das Zwischenmenschliche, auf das Sanfte im Groben, auf das Schöne im Traurigen und würzt es mit einer melancholischen Note.

Primitivo war für mich ein Stück weit wie nach Hause kommen. Ich bin in der Umgebung Langenthal aufgewachsen und hatte mit jedem genannten Schauplatz sofort ein Bild vor Augen. Der Lokalbezug stimmt und ist sicher nicht zufällig gewählt, zumal Pedro Lenz selber in Langenthal aufwuchs. Aber nicht nur da finden sich autobiografische Elemente, sondern auch in der Spanischen Herkunft Charlys und der Lehre als Maurer. 

Gern möchte ich dir zum Abschluss folgende Frage mit auf den Weg geben: Warum wohl der Name «Primitivo», was denkst du? Was soll er assoziieren? Siehst du als erstes ein Weinglas mit dem ursprünglich aus Kroatien stammenden Rotwein oder denkst du vielmehr an «Ursprünglichkeit»? Bin gespannt – schreib mir deine Gedanken doch in die Kommentare.

Primitivo

von Pedro Lenz

Cosmos Verlag | 2020 | 184 Seiten

ISBN 978-3-305-00472-0 | Hardcover mit Umschlag

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