Isabell Rüdt und Christophe Huber: Sterben müssen – sterben dürfen?

Sachbuch | Wie gehen Ärzte mit dem moralischen Konflikt einer Freitodbegleitung um und soll ein Mensch in hohem Alter selbstbestimmt sterben dürfen, auch wenn er keine todbringende Krankheit hat? Der Konsiliararzt Christophe Huber erzählt von seinen Erfahrungen.
Coverbild mit Kaktus und Bonsai im Hintergrund

Schmerzen, die kaum auszuhalten sind, eine unheilbare Krankheit oder schlicht Lebenssattheit – dies sind heute die häufigsten Ursachen älterer Menschen für den Wunsch nach einem assistierten Suizid. Doch wie ist das genau? Wer kann wann das Sterbemedikament verschreiben oder einnehmen? An welche Regeln müssen sich Ärzte und Patienten halten und welche rechtlichen Grundlagen existieren in der Schweiz? Christophe Huber setzt sich seit sieben Jahren als Konsiliararzt dafür ein, «dass Menschen mit Würde aus dem Leben scheiden können». Er hat Isabell Rüdt von seinen Erfahrungen erzählt.

Berührende Patientenportraits und Wissenswertes

Das Sachbuch ist aufgeteilt in fachlich fundierte Ausführungen, kompakte Wissensboxen und persönliche Portraits. Letztere sind sehr vielfältig zusammengestellt (der Freiheitsliebende, die Grande Dame, der Schmerzpatient, die Gottgläubige, der Intellektuelle, die Gehörlose, der Überflieger u.v.m.) und wunderbar menschlich formuliert. Man beginnt auf einmal zu verstehen, warum Menschen freiwillig aus dem Leben scheiden möchten.

Die Wissensboxen klären auf:

Suizid oder Selbstmord? […] Die Bezeichnung Selbstmord wird zunehmend als abwertend eingeordnet, weil damit eine moralisch negative Beurteilung einhergeht. Als alternative Bezeichnung dienen Selbsttötung, Suizid und Freitod. […] Möchte man wertfrei ausdrücken, dass sich ein Mensch das Leben nimmt, eignet sich das Wort Suizid.

Weiter werden Fragen beantwortet wie: Welches Sterbemedikament nimmt ein:e Patient:in eigentlich ein und wie wirkt es? Welche Kriterien müssen eingehalten werden, damit eine Freitodbegleitung überhaupt durchgeführt werden darf? Was ist der Unterschied zwischen «Sterbehilfe» und «assistiertem Suizid»? Was ist die direkte aktive Sterbehilfe und wo hat das Suizidtabu seinen Ursprung?

Die Medizin-Falle und das würdevolle Sterben

Mit dem Sterben habe ich mich bis vor wenigen Jahren kaum befasst. Sind wir ehrlich: Im Alltag trifft man dieses Thema kaum an. Wer spricht schon gerne darüber, dass es zu Ende gehen könnte? Doch wenn etwas sicher ist, dann dies: es wird einmal zu Ende gehen. Die Frage ist höchstens: wie?

Menschen werden heute immer älter. Ausgewogene und nahrhafte Ernährung, gesunde Bewegung und allem voran: bessere Medizin führen dazu, das der menschliche Körper länger lebt. Doch zu welchem Preis?

Im Buch erzählen Huber und Rüdt auch von den Schattenseiten der modernen Medizin. Vom nicht loslassen können eines geliebten Menschen. Davon, einen Patienten oder eine Patientin um jeden Preis am Leben zu erhalten, auch wenn der jeweilige Körper oder Geist sich schon (halb) verabschiedet hat. Sie erzählen von Menschen, die gehen möchten, deren Wunsch aber durch rechtliche, ärztliche oder persönliche Bedingungen (und jahrelange Tradition und Moraldenken) verunmöglicht wird.

Fragen über Fragen

Diese Buch stimmt mich nachdenklich. Wie weit darf unsere persönliche Freiheit gehen? Dürfen wir unseren Tod selber «planen»? Wie hoch muss unsere Lebensqualität sein, damit wir am Leben bleiben wollen? Und dann: Wie würde ich reagieren, wenn eine mir nahe Person sich für den assistierten Suizid entscheidet? Und schliesslich: Unter welchen Umständen werde ich wohl eines Tages sterben?

Es ist ein Sammelsurium an Emotionen, Wissen, Facts rundum das Thema assistierter Suizid und Freitod, das beim Lesen auf mich eingeprasselt ist. Ein Buch, dem durch die sehr menschlichen Portraits wohltuendes Leben eingehaucht wird. Daumen nach oben von mir für dieses interessante Sachbuch, das zum Denken und Diskutieren anregt und sehr viel Fingerspitzengefühl beweist.

Sterben müssen – sterben dürfen? Freitodbegleitung und die Rolle des Arztes

von Isabell Rüdt und Christophe Huber

Stämpfli Sachbuchverlag | 2022 | 160 Seiten

ISBN 978-3-7272-6084-1 | Hardcover

Zum Buch

Disclaimer: Rezensionsexemplar vom Verlag

1 Kommentar

  1. Zeilentänzerin

    Hey du, ein sehr nachdenklich stimmendes Thema, das glaube ich dir. Ich denke, ich könnte mich in einem ganzen Buch gar nicht damit befassen, vermute ich, auch wenn man sich auch diesen heiklen Thematiken stellen muss. Danke für die Rezension!

    Hab einen schönen Sonntagnachmittag,
    Zeilentänzerin

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