
30 Apr Michelle Halbheer: Platzspitzbaby
Dieses Buch musste ich nach dem Lesen erst einmal weglegen und verdauen. Zwar schon seit 2013 veröffentlicht, bin ich erst kürzlich dank eines Tipps darüber gestolpert. «Sehr mitreissend geschrieben» sei es, aber «inhaltlich schono happig», befand die Kollegin. Finde ich nach der Lektüre eindeutig auch: Platzspitzbaby hat mich emotional sehr mitgenommen und berührt.
Die Tochter einer Heroinabhängigen
Michelle Halbheer beschreibt im Buch ihre Kindheit. Sie ist die Tochter von Sandrine, die ihrerseits keinen leichten Start ins Leben hatte und so leider viel zu früh den harten Drogen verfiel. Michelle wagt es viele Jahre später über die unzumutbaren Umstände von damals zu sprechen. Sie erzählt sehr persönlich, spricht über grauenvolle Details und die entwickelten Strategien und Überlebensmechanismen eines alleine und sich selbst überlassenen Kindes.
Die vergessenen Kinder
Mit dieser sehr intimen Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen, ist eine bewusste Entscheidung der Autorin. Sie hat inzwischen Jura studiert und setzt sich für die Kinder von drogenabhängigen Eltern ein. Michelle Halbheer will aufklären, helfen und beschützen. Sie möchte diesen oft vergessenen Kindern eine Stimme verleihen. Sie macht darauf aufmerksam, dass in der Betreuung von Drogenabhängigen heute immer noch sehr viel falsch läuft und kämpft mit Recht und Aufklärungsarbeit dafür, dass sich dies ändert: Oft werden die Eltern mit Entzugsprogrammen unterstützt, während deren Kinder aber selten betreut werden.
Michelle Halbheers Mut ist beachtlich, denn diese Tätigkeit bedeutet für sie auch, dass sie täglich mit ihren Erinnerungen konfrontiert ist. Mit der Entscheidung für die Kinder und zu der Veröffentlichung ihrer eigenen Geschichte setzt sie auch die Beziehung zu ihrer Mutter aufs Spiel, für die sie teilweise alles getan hätte. Ich habe grossen Respekt und Achtung vor Michelle Halbheer und wünsche ihr viel Kraft und Durchhaltevermögen für diese absolut lohnenswerte Aufgabe.
Ganz grosse Leseempfehlung
Das Buch wurde von Michelle Halbheer in Zusammenarbeit mit der Journalistin Franziska K. Müller, die auch das Vorwort geschrieben hat, verfasst. Die Worte und Erzählungen treffen schlicht ins Herz. Ein Buch, das sich auf jeden Fall zu lesen lohnt. Seit 2020 gibts übrigens auch einen vom Buch inspirierten Film Platzspitzbaby. Hier gehts zu Trailer und Film.
Meine Mutter verkehrte bereits als Jugendliche im Kreis jener Unglücklichen, die später zu Tausenden auf dem Platzspitz und dem Letten endeten. Sie fühlte sich zu jenen hingezogen, die im Kokain eine Krücke für ihr angeschlagenes Selbstbewusstsein fanden und im Heroin eine Möglichkeit, all ihre Gefühle zu tilgen. Dass die Elenden Nachwuchs zeugten, Kinder, die sich jahrelang in ihrer Obhut befanden, während ihr Leben auf der Gasse ausser Rand und Band geriet, schien niemanden zu interessieren. Christiane F., die Autorin des Buches «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo», blieb in den Schlagzeilen, und ihr Sohn stand aufgrund der Prominenz seiner Mutter unter erhöhter Beobachtung. Er wurde ihr weggenommen. Ein Glück, dass viele andere Kinder nicht hatten.
Michelle Halbheer u. Franziska K. Müller: Platzspitzbaby. Meine Mutter, ihre Drogen und ich. Wörterseh Verlag 2013. ISBN 978-3-03763-035-8. Hardover mit Umschlag, 224 Seiten.
Du willst mehr? Hier geht’s zu weiteren Rezensionen.
Zeilentänzerin
Veröffentlicht um 13:15h, 03 MaiHey du, das klingt nach sehr harter Kost, umso schöner, wenn ein solches Buch so lesenswert geschrieben wurde, sodass sich auch Betroffene gesehen fühlen.
Zeilentänzerin
Noëmi
Veröffentlicht um 14:00h, 04 FebruarHi liebe Zeilentänzerin, ab und an darf harte Kost sein, oder? 🙂 es ist auf jeden Fall sehr empathisch formuliert.