Kriegsliteratur erfrischend anders
Kriegsliteratur über den zweiten Weltkrieg. Schon wieder? Zugegeben, ich habe zuerst dasselbe gedacht. Doch dann hab ich zu lesen begonnen und war von der unerwarteten und erfrischenden Erzählperspektive positiv überrascht. Die Sicht einer jungen Deutschen, Luise, die ziemlich Grips im Kopf hat und Schriftstellerin werden will, ist erfrischend anders und neu. Anfang der 1940er Jahren verdient sie ihr Geld mit Reportagen für das Hitler-Regime. Dabei hadert sie damit, dass sie Artikel schreiben muss, deren Aussage sie moralisch nicht unterstützen kann. Und dann ist da auch noch die verschleppte Wolgarussin, Irina. Sie versucht im damaligen Kriegsdeutschland ihre Haut mit Singen zu retten.
Es ist spannend zu sehen, wie die beiden Frauen auf ihre Art einen Weg finden, um in der Kriegszeit physisch und seelisch integer und unversehrt zu bleiben. Und sich von der Meinung anderer, auch wenn sie noch so rhetorisch stark vom Rednerpult gebrüllt wird, nicht einnehmen zu lassen.
Eine Liebe, die nicht sein darf
Im Buch geht es aber nicht nur um Krieg. Es geht auch um Liebe. Ich wage sogar zu behaupten, es geht allem voran um Liebe. Um eine Liebe, die nicht sein darf, um ganz genau zu sein. Denn als Fritz und seine Geliebte heiraten wollen, wird Fritz ermordet. Fritz ist ein vor Kraft strotzender Held der Nationalsozialisten. Man nimmt an, dass politische Gegner ihn zur Strecke gebracht haben. Darum soll ihm zu Ehren ein Denkmal gestiftet werden. Und um hiervon zu berichten, reist Luise nach Jederstadt. Doch bald ist sie misstrauisch, denn die Einzelheiten der ihr von Kreisleiter Exler aufgetischten Story stimmen irgendwie nicht mit ihren Beobachtungen überein. Ihr Ziel: Sie will den Fall Freundlich aufklären – und am besten gleich einen Kriminalroman darüber schreiben.
Kaum in Jederstadt eingetroffen, trifft Luise auf die schöne Irina, die ihr ab sofort nicht mehr aus dem Kopf will. Und sie fragt sich: Gilt der Artikel, der Männerliebe in Nazideutschland verbietet auch für Frauen?
Die weise Sicht eines alten Baumes
Einige Kapitel der Geschichte sind aus der Sicht eines 125-jährigen Baumes geschrieben. Er steht auf dem Hügel, auf dem das Denkmal gebaut werden soll. Auf der Bank unter dem Baum finden die heimlich Verliebten des Städtchens zusammen. Und so wird der alte Baum unfreiwillig Zeuge verhängnisvoller Taten.
Während die Handlung zuerst aus der Sicht von Luise, dann von Irina erzählt wird, weben sich die nahezu lyrischen Schilderungen des alten Baumes über das ganze Buch hinweg dazwischen. Der Baum und seine weisen Worte werden zu Schlüsselszenen. – Eine schöne Idee! 🙂
Trotz der manchmal für meinen Geschmack etwas zu ausufernden Beschreibungen, würde ich das Buch sofort weiterempfehlen. Grund dafür ist allem voran der gelungene Plot und die historische Plausibilität. Die Kriegsthematik wird in einen erträglichen Rahmen gebracht (ich mag eigentlich keine Kriegsgeschichten), während die Grausamkeit des Kriegs aber nicht etwa vernichtig würde. Das Geschehen sowie das Entsetzen darüber findet an manchen Stellen durchaus seinen Platz. Aber durch das liebevolle Rahmensetting sind sie wie in Watte gepackt. Zweit-Weltkriegsliteratur also, die auch für Zartbesaitete geeignet ist.
Jederstadt
von Barbara Martina Strebel
Ulrike Helmer Verlag | 2022 | 342 Seiten
ISBN 978-3-89741-925-4 | eBook ePUB
Disclaimer: Rezensionsexemplar vom Verlag und Autorin
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