Zufluchtsort im Wald
Klingt harmonisch, nicht? Nun, nicht nur. Denn das Leben im kanadischen Wald birgt nicht nur Frieden und Harmonie, sondern auch eine Vielzahl von Herausforderungen und unerwarteten Ereignissen für die Protagonistin und ihre Familie:
«Ich habe die Erde umgegraben, dabei Johnny Cash gehört und danach jede Menge Gurken gepflanzt, weil wir die so lieben. Ein paar Monate später habe ich Kürbisse geerntet, jede Menge riesige Kürbisse. Aber keine einzige Gurke. Ich stehe mit allem am Anfang.»
– Seite 172
Wie sagt man so schön? Aller Anfang ist schwer. Da hilft es sicher, sich selbst nicht so ernst zu nehmen, wie es die Protagonisten manchmal tut.
Zwischen Distanz und Nähe
Knapp zwei Meter Pflichtdistanz – du erinnerst dich bestimmt? Die Covid-19-Pandemie hat uns alle auf Distanz gehalten. Während die einen also ganz alleine im Pflegeheim sterben, weil niemandem erlaubt ist, sie besuchen zu sehen, leben die anderen zusammengepfercht in einem Haus. Auch letzteres ist nicht leicht und manchmal haben sie das wachsende Bedürfnis nach Stille und Weite:
«Ich habe das Bedürfnis, mich ganz allein vom Blick der anderen zu befreien, ihre Erwartungen zu sprengen. Ich brauche Luft, die nur mir gehört. Ich brauche meine Luft.»
– Seite 123
Leben im Einklang mit der Natur
Eltern und Kinder lernen gemeinsam die Natur kennen und im Einklang mit ihr zu leben. Sie lernen, die Bäume dem Namen nach zu unterscheiden. Sie trocknen Blumen, baden im Fluss und grüssen den Biber.
«Ich sammle Klee genauso wie Löwenzahn. Beide lege ich zum Trocknen in Bücher, die hier überall verstreut liegen und die ich mir fest vornehme, eines Tages zu lesen.»
– Seite 16
Wenn du jetzt vielleicht denkst: Das tönt irgendwie blumig und etwas kitschig – keine Sorge, im Buch werden auch Käfer, welche die Marmeladeproduktion gefährden, am Baum verdrückt. Oder «Himugüegeli» das WC runtergespült. Und ein wildes Tier – vielleicht ein Puma? – hinterlässt ein kleineres Massaker, dort, wo einmal ein Pferd und Hühner waren.
Doch nicht nur wilde Tiere treiben sich ums Haus, auch der Geist der Jeanne d’Arc. Eine Herzensbrecherin, deren Grabstein im Garten ausgegraben wird. Die Nachbarn wissen einiges über sie, über das Haus und den Wald zu erzählen.
👉 Handlich ist das Buch in doppeltem Sinne: Einerseits ist es ein hübsches Buch, das sich angenehm in der Hand hält. Andererseits lädt die Länge der Kapitel ein, unterwegs gelesen zu werden. Es ist poetisch, philosophisch bis unterhaltsam. Schlicht, klar und mit viel Wahrheit drin. Nimm dir Zeit für dieses entschleunigende Buch, denn es verdient es.
Und noch ein Wort zu Diogenes Tapir: Bücher, die uns wach und gelassen machen
Der Diogenes Verlag startet mit Diogenes Tapir eine neue Reihe. Der Verleger, Philipp Keel, will darin Bücher für ein eigensinnigeres Leben verlegen. Geschichten, die uns auf andere Gedanken bringen und uns an etwas glauben lassen:
«Alle Sachbücher und Romane in dieser Reihe lassen uns unsere eigenen Antworten finden, sie trösten und verzaubern, erzählen von Natur, der Geschichte der Menschheit, ihren Kulturen, von Gemeinschaft und Respekt. Es sind Bücher, die uns wach, aber auch gelassen machen.»
– Philipp Keel, Verleger Diogenes Tapir
Die als Namensträger fungierenden Tapire sind übrigens sehr geduldige Waldbewohner, geschickt, vorsichtig und dennoch neugierig – so neugierig, dass einer davon es sogar aufs Cover geschafft hat.
Sie und der Wald
von Anaïs Barbeau-Lavalette
übersetzt von Anabelle Assaf
Diogenes Tapir | 2024 | 240 Seiten
ISBN 978-3-257-07295-2 | Hardcover
Disclaimer: Rezensionsexemplar von Verlag
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